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Wie viele Helden kann es geben?

waz09-04-01

WAZ 01.04.2009

Die ersten Stolpersteine in Gladbeck sind verlegt. Der Kölner Künstler Gunter Demnig brachte sie an neun Stellen im Stadtgebiet ins Pflaster ein, damit sie an das Schicksal von Nazi-Opfer erinnern.

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Eine dichte Menschentraube drängt sich vor dem Haus Horster Straße 54 rund um ein kleines Pflaster-Viereck auf dem Gehweg: Sie alle wollen dabei sein, ein Zeichen setzen, wenn der Kölner Künstler Gunter Demnig die ersten sieben Stolpersteine verlegt, Pflastersteine mit Messingplatten und Inschriften – zum Erinnern an die jüdischen Familien Kaufmann und Cohen, die hier wohnten und Opfer des Nazi-Regimes wurden.

Unter den Menschen die Aktiven des Gladbecker Bündnis für Courage, die die Steine ins Rollen brachten, Schülerinnen und Schüler aus sieben Gladbecker Schulen, die dem Schicksal der Verfolgten und Getöteten nachspürten und in beeindruckender Weise aufarbeiteten; unter ihnen Ita Kaufmann, Enkelin des Ehepaares Kaufmann, zu diesem Anlass aus München nach Gladbeck gekommen.

Was sie sagt zu dem, was mit ihrer Familie geschehen ist, zu dem, was gerade jetzt an diesem Ort passiert, hinterlässt einen tiefen Eindruck, weil es so menschlich ist. Dass ihre Familie und sie auch heute noch tagtäglich mit den Folgen „dieser entsetzlichen Wirklichkeit” zu kämpfen haben, sagt sie, dass ihr Sohn, als er so alt war wie die Gladbecker Schülerinnen und Schüler jetzt, von Panikattacken ergriffen, von KZ-Alpträumen geplagt wurde und nicht mehr zur Schule gehen konnte. Dass viele Nachkommen leiden, mit der Beschämung, der Entwürdigung und der Angst nicht zurecht kommen, die ihren Eltern und Großelterm widerfahren sind.

Aber auch dies sagt Ita Kaufmann: „Wir wissen heute, dass die Menschen zu Schlimmstem fähig sind, dass jeder von uns auch hätte mitwirken können, wenn er oder sie in einer solchen Situation gewesen wäre. Viele haben mitgemacht, viele haben weggeschaut, viele haben sich nicht eingemischt, manche haben aber auch andere gerettet, sogar unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Aber wie viele Helden kann es schon geben? Ich weiß nicht, ob ich so eine Heldin hätte sein können. Ich hoffe es. Ich hab‘ dieses Bild von mir, ich wünsch‘ es mir. Aber keiner kann sicher wissen, wie er in eine solchen Situation handeln würde.”

Die Stolpersteine, sagt Ita Kaufmann, seien für sie ein kleines Zeichen dafür, dass es eine Chance gebe, die aber nur mit unermüdlicher Achtsamkeit und Aufmerksamkeit erhalten werden könne. „Ich danke euch, dass ihr dieses Zeichen gesetzt habt, womit den Ermordeten, die kein Grab haben, ein Stein der Erinnerung gegeben wird und den geschundenen Überlebenden ein Funken Anerkennung der Ungerechtigkeit.”

Noch an acht weiteren Stellen in der Stadt werden danach Stolpersteine verlegt: An der Goethestraße 40 für Albert Heumann, am Jovyplatz 18 für das Ehepaar Berwald, am Kardinal-Hengsbach-Platz für Bernhard Poether, an der Redenstraße 34 für Franz Zielasko, an der Horster Straße 2 und 3 für Fridolin Zwillenberg und die Familie Perl, an der Breukerstraße 90 für Erich Porsch. „Ich bitte euch, weiterhin auf die Steine zu achten, dass ihr euch weiterhin darum kümmert, das heißt, den Kummer spürt, der nicht vergehen kann”, so Ita Kaufmann. Das versprachen die Schülerinnen und Schüler, die Paten der Stolpersteine.

Schüler und Historiker erhalten Drohanrufe
„Das Grauen begann nicht erst in Auschwitz, sondern vor unserer Haustür.” Roger Kreft vom Bündnis für Courage warnte vor dem Hintergrund des Schicksals der von Nazis ermordeten Gladbecker auch vor aktuellen Entwicklungen.

Lokalhistoriker Manfred Samen, berichtete Kreft, bekomme bitterböse Anrufe und ebenso Schüler des Heisenberg-Gymnasiums nach ihrem Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz. Auch deshalb zollte er den Schülern, die sich so engagiert in die Stolperstein-Aktion eingebracht haben, den höchsten Respekt und konnte sich da einig wissen mit allen anderen Akteuren: „Wir sind stolz auf euch. Toll, was ihr geleistet habt.”

Den würdigen Abschluss dieser ersten Stolperstein-Verlegungen bildete eine Gedenkfeier im Dietrich-Bonhoeffer-Haus. Gunter Demnig, der „Vater” des Stolperstein-Gedankens, berichtete über Entstehen und Entwicklung des Projekts. 1996 hatte der Kölner Künstler in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg die ersten 50 Steine noch illegal gelegt; inzwischen sind es über 19 000 in 432 Städten. Die letzten aktuell in Gladbeck, aber auch hier sollen es nicht die letzten bleiben.