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Ein Kursfahrtprojekt der Jahrgangsstufe 13

Hier Halden und Fabriken, dort Berge und Täler, hier blauweiße Fahnen an Siedlungsbauten, dort Stuckornamente an Gründerzeitvillen, hier urbane Industriekultur, dort literarisch-künstlerische Tradition… Findet man in der Bundesrepublik einen größeren soziokulturellen Gegensatz als den zwischen unserer Gegend und jener beschaulichen Region, wo, wie Werbebroschüren wissen, das „grüne Herz Deutschlands“ schlägt?

                                      

                                                Pilotfahrt 2006:Die Exkursionsteilnehmer vor den Dioskuren der Weimarer Klassik

Alljährlich zu Schuljahresbeginn brechen Leistungskurse der Fächer Deutsch und Geschichte für mehrere Tage auf, um den „Kulturraum Weimar“ zu ergründen. Vorrangiges Exkursionsziel sind die zentralen Stätten und Erinnerungsorte der deutschen Klassik: das Goethe-Nationalmuseum am Frauenplan, das Schillerhaus, das Stadtmuseum im Bertuchschen Haus. Von Anfang an machen die Schülerinnen und Schüler dabei die Erfahrung, dass es durchaus gelernt sein will, eine Stadt zu entdecken – auch wenn es sich um die kleinste der bisherigen europäischen Kulturhauptstädte handelt. Professionelle Führungen und gemeinsame Museumsbesuche sind nämlich nur ein Teil des Programms; in erster Linie sind die Kursteilnehmer aufgefordert, in kleinen Gruppen selbstständig komplexe Forschungsaufträge zu bearbeiten – sei es im Wittumspalais, im Lucas-Cranach-Haus oder im benachbarten Jena. Die Ergebnisse fließen nicht nur in den Fachunterricht des laufenden Schuljahres und in die (hoffentlich) laufende Abiturvorbereitung ein, sie werden auch in Form von Portfolios oder Broschüren dokumentiert.

Alle Themen sind auf die Curricula der Fächer abgestimmt, einige zugleich fachübergreifend angelegt. Wer etwa Franz Liszt als Künstlertypus des 19. Jahrhunderts untersucht und die Frage zu klären hat, ob der Leiter der Weimarer Hofkapelle eher als Virtuose oder eher als Avantgardist anzusehen ist, wird sich zwangsläufig auch mit dessen Rhapsodien beschäftigen, und in der „Villa Medusa“ lernen die künftigen Abiturienten Ernst Haeckel nicht nur als Schöpfer einer kuriosen Spielart des Monismus näher kennen, sondern natürlich auch als großen Zoologen.

Bei aller thematischen Vielfalt ist ein Programmpunkt für die Geschichts- wie für die Literaturforscher gleichermaßen bindend: der gemeinsame Besuch der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald auf dem Ettersberg. Natürlich weiß man nach zwölf Schuljahren über das Lagersystem des NS-Staats und die historischen Hintergründe bereits recht gut Bescheid, aber es ist für viele Schülerinnen und Schüler eine neue – und auch bestürzende – Erfahrung, auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers die „Topographie des Terrors“ unmittelbar zu rekonstruieren. Die hierzu angebotenen Führungen sind aspektorientiert; die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener kann ebenso im Mittelpunkt stehen wie die Gedenkstättenpolitik in beiden deutschen Staaten vor der Wiedervereinigung.

Was sagen nun die Teilnehmer selbst zu diesem Projekt? Vor der „Pilotfahrt“ gab es hier und da etwas Enttäuschung, denn schon bald stand fest, dass keine getarnte Erholungsreise auf die Gruppe zukam, sondern Unterricht in anderer Form. Aber am Ende hat es allen, auch den Kursleitern, viel Spaß gemacht. Und schon beim ersten Mal war ein Nebeneffekt zu verzeichnen, der bei der Planung kaum in Betracht gezogen worden war: Denn ganz nebenbei lernen die Schülerinnen und Schüler auf einer solchen Exkursion auch eines der neuen Bundesländer etwas genauer kennen – und stellen dabei fest, dass Thüringen und das Ruhrgebiet denn doch etwas Gravierendes verbindet: Beide Regionen haben derzeit einen komplizierten Strukturwandel zu bewältigen. Gladbeck ändert sich. Und Weimar ändert sich auch…

Jörg Judersleben